Ulm / Christine Liebhardt 23.07.2018
Die Unterzeichner einer Erklärung zur Flüchtlingspolitik wollen die Diskussion nicht anderen überlassen.

Es sind zwei Zahlen, die zeigen, wie sehr sich der gesellschaftliche Diskurs in nur wenigen Monaten geändert hat. Ermittelt hat sie das Allensbacher Institut für Demoskopie. Demnach fanden noch im Mai dieses Jahres 26 Prozent der Befragten in Deutschland die Flüchtlingssituation besorgniserregend – im Juni waren es bereits 47 Prozent. „Das Klima hat sich extrem verschärft und radikalisiert“, warnt Lothar Heusohn vom Förderverein des Behandlungszentrums für Folteropfer Ulm. „Nicht, weil die Situation sich verschlimmert hätte, sondern weil die Zahlen abbilden, wie Politik und Medien mit dem Thema umgehen.“

Dabei will Heusohn ebenso wenig zusehen wie Urs Fiechtner von Amnesty International. Die beiden Organisationen haben deshalb jetzt eine „Ulmer/Neu-Ulmer Erklärung für eine menschenrechtliche und solidarische Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa“ auf den Weg gebracht. 62 lokale und regionale Bündnisse gehören zu den Erstunterzeichnern: Menschenrechtsgruppen und Friedensaktivisten, Flüchtlingskreise, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und kirchliche Gruppen.

Betroffenheit reicht nicht

Den Initiatoren geht es um zweierlei: Sie wollen die Diskussion nicht „den anderen“ überlassen, und sie fordern alle Bürgerinnen und Bürger zu aktivem gesellschaftlichen Engagement auf. Denn es gebe keine Flüchtlingskrise, „sondern eine fundamentale Menschenrechtskrise“, heißt es in der Erklärung, die auch Vorbild sein soll für andere Städte. Es genüge nicht mehr, auf die „Erosion der Menschenrechte in unserem Land mit bloßer Betroffenheit oder Kopfschütteln zu reagieren“. Fiechtner hofft, „dass das nicht nur ein Windhauch im Wasserglas einer kleinen Stadt bleibt“. In mehr als 50 Ländern gebe es inzwischen direkte Angriffe auf die Zivilgesellschaft, etwa in Ungarn, wo Nichtregierungsorganisationen Flüchtlinge nicht mehr unterstützen dürfen.

Heusohn weiß, was die ständige Angst vor Abschiebung für Geflüchtete bedeutet. Die Suizidgefährdung der traumatisierten Menschen sei nie höher gewesen. „Es bleibt ihnen ja nicht verborgen, was sich hier abspielt“, berichtet Heusohn. „Die fallen ins Bodenlose.“ Der therapeutische und sozialarbeiterische Aufwand sei enorm gestiegen, Patinnen und Paten werden gesucht.

Info Die vollständige Erklärung gibt es im Internet auf amnesty-ulm.de.

https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/62-organisationen-fuer-mehr-solidaritaet-27201416.html

 

 

Ulm / ruk 13.07.2018

Wie war das gesellschaftspolitische Klima vor drei Jahren? 2015 also, als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren, um hier Zuflucht vor Krieg und Terror zu finden? „Damals ist ein Ruck durch die Ulmer Gesellschaft gegangen“, sagt Lothar Heusohn im Rückblick auf eine Zeit, da viele offene Arme zu sehen waren und Menschenfreundlichkeit dominierte. Viele Helfer engagierten sich, gaben Sprachkurse, halfen bei Gängen zu Behörden und Ämtern.

Doch dieses dem Menschen zugewandte Klima hat sich gewandelt. Das stellt nicht nur Heusohn fest, sondern viele Menschen, die sich in Organisationen, oft auch auf ehrenamtlicher Basis, einsetzen. So Manfred Makowitzki, Leiter des Behandlungszentrums für Folteropfer Ulm, Andreas Mattenschlager, Leiter der Psychologischen Familien- und Lebensberatung der Caritas Ulm, Wolfgang Erler und Eberhard Lorenz vom Flüchtlingsrat Ulm/Alb-Donaukreis sowie Urs Fiechtner, Autor und Menschenrechtsaktivist.

Geflüchtete entmenschlicht

Ihr Tenor: In der aktuellen politischen Debatte werden Geflüchtete entmenschlicht, zu Zahlen degradiert und mit Worten herabgewürdigt, Menschenrechte mit Füßen getreten. Ihr Ziel: Diesem Denken eine zivilgesellschaftliche Kraft entgegensetzen, „ein Gegengewicht, zu der Art von Politik, die sich von den  Menschenrechten verabschiedet hat“, sagte Fiechtner, der sich bei Amnesty International engagiert.

Wie Heusohn macht auch er eine „Verrohung der Sprache“ aus. Da sei von „Asyltourismus“ die Rede oder von einer „Anti-Abschiebeindustrie“. Welche Konsequenzen ein solcher Umgang mit Sprache hat, das habe sich in der deutschen Geschichte bereits einmal gezeigt, so Heusohn. Beispiel Seehofer, der sich jüngst gerühmt habe, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Personen nach Afghanistan abgeschoben wurden – und die Bemerkung anfügte: „Das war von mir nicht so bestellt“. Für Heusohn ist der Innenminister der typische Fall eines „Schreibtischtäters“. Der Fall des jungen Afghanen, der nach seiner Ankunft in Kabul Suizid begangen hat, zeige eindrücklich die Folgen.

Die Angst vor „Rückführungen“, wie Abschiebungen beschönigend genannt werden, ist groß. „Die Menschen, darunter Frauen mit kleinen Kindern, schlafen nicht mehr in den Gemeinschaftsunterkünften“, sagte Makowitzki. Selbst aus der Psychiatrie würden Menschen abgeschoben, „therapeutische Arbeit wird unmöglich gemacht“, sagte der Leiter des Behandlungszentrum für Folteropfer.

Kritik an den Richtern

Makowitzki machte mit seiner Kritik auch nicht vor der Justiz Halt. Richter würden mittlerweile häufig vom „krankheitsbedingten Abschiebungshindernis“ abrücken, Stellungnahmen von Ärzten zur Seiten legen und nach persönlichem Eindruck entscheiden: „Das ist ein Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung.“

Unsicherheit und Angst machten vor allem Kindern und Jugendlichen zu schaffen, berichtete Andreas Mattenschlager aus der Erfahrung der Caritas, die psychotherapeutische Unterstützung für traumatisierte Flüchtlingskinder und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge anbietet. „Je unsicherer der Aufenthalts­status, desto wahrscheinlich sind psychische Störungen.“ Oder mehr Suizide, wie Wolfgang Erler vom Flüchtlingsrat befürchtet. Wenn überall die rechtliche Botschaft „ihr seid nicht willkommen“ verbreitet würden, würden damit auch die Anstrengungen der Helfer konterkariert. „Das ist eine verstörende Entwicklung.“

Dem „eindeutig fremdenfeinlichen Klima“ (Eberhard Lorenz), der „Erosion der Menschenrechte“ und dem „Schüren einer Fremdenangst durch die Politik“  (Urs Fiechtner) wollen die Organisatoren entgegentreten. Heusohn kündigte eine „Ulmer/Neu-Ulmer Erklärung für eine menschenrechtlich und solidarische Flüchtlingspolitik“ an.

https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/von-menschenrechten-und-schreibtischtaetern-27139026.html